„Treibt nur eure Künste! Das ist alles recht gut, aber ihr werdet mich doch wohl nicht retten."1 Mit diesen Worten frustrierte der Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe seine Ärzte - hier insbesondere Wilhelm Rehbein (1776-1825), Hofarzt in Weimar, seit 1818 Goethes Hausarzt -, als ihn im Februar 1823 eine schwere gesundheitliche Krise niedergeworfen hatte: allem Anschein nach ein Herzinfarkt2. Wenige Tage später, am 24. Februar, berichtet Kanzler von Müller: „Mit Wohlgefallen hörte er [Goethe], dass man ihm Arnika geben wolle, und hielt ganz behaglich eine kleine botanische Vorlesung über diese Blume, die er häufig und sehr schön in Böhmen getroffen."3 Der prominente Patient selbst ließ an diesem Tag in sein Tagebuch die Bemerkung eintragen: „eine Tasse Arnica-Thee getrunken." Und Eckermann gibt uns - ebenfalls am Dienstag, dem 24. Februar 1823 - sogar eine Beschreibung des Kontextes: „Er trank drauf eine Tasse eines Dekokts von Arnika, welche gestern, im gefährlichsten Moment von Huschke angewendet, die glücklichste Krisis bewirkt hatte. Goethe machte eine graziöse Beschreibung dieser Pflanze und erhob ihre energischen Wirkungen in den Himmel."4
Wenn Frank Nager in seinem insgesamt sehr lesenswerten Buch ‘Goethe - der heilkundige Dichter’ schreibt, dass Goethe zur Selbstmedikation griff: „Der Arnika traute er in dieser Phase mehr als den ‘Künsten’ der Ärzte" 2, S. 41; so erweist sich diese Darstellung als nicht korrekt, da offensichtlich Wilhelm Ernst Christian Huschke (1760-1828), Hofarzt in Weimar, das Arnika-Dekokt verordnet hatte, allerdings „mit Wohlgefallen" des Patienten.
Goethe hat diese Pflanze immer wieder beachtet, wie weitere Zitate belegen. So schreibt er am 16. August 1821 an Herzog Carl August von Marienbad aus: „Erst im Rehauer Wald [um Marienbad] fand ich die Arnica montana, welche nun auf den hiesigen Höhen in ihrer ganzen Vollkommenheit erscheint."5 In seinen ‘Botanischen Studien’ notiert Goethe: „Im vergnüglichen Erinnern mag ich z. B. gern gedenken, mit wie frohem Erstaunen wir die arnica montana nach erstiegenen voigtländischen Berghöhen erst zerstreut, dann aber an sanften sonnigen abhängigen Waldwiesen, feuchten aber nicht sumpfigen, herrschend und man dürfte sagen wüthend erblickten."6 Eine interessante Bemerkung findet sich in den ‘Paralipomena’ unter den ‘Botanischen Einzelheiten’: „Seit einigen Jahren verschwinden Pflanzen aus der Gegend, wo ich wohne, die sonst häufig da waren, z.B. Gentiana ciliata, Verbena europaea, Pinguicula vulgaris ... Ich sehe doch nicht, daß die Arnica fehlt, von der man jährlich einen Pferdekarren voll sammlet und in Apotheken bringt."7 Tatsächlich wurde jedoch die Heilpflanze in so großen Mengen gesammelt, dass ihr Bestand im 19. Jh. gefährdet war und heute geschützt werden muss.
Die Arnica montana L., der Bergwohlverleih, war zur Goethezeit noch eine verhältnismäßig junge Arzneipflanze. Die antiken Autoren kannten sie nicht, und für ihre Verwendung im Mittelalter finden sich nur wenige gesicherte Spuren. Als erste Nennung der Arnika in einem Kräuterbuch gilt der ‘Liber simplicis medicinae’ aus dem ‘Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum’8 der Hildegard von Bingen, besser bekannt unter dem Namen ‘Physica’, dem Titel des ersten Druckes (Schott, Straßburg 1533). Marie-Louise Portmann bucht die Arnika gleich zweimal für die ‘Physica’, und zwar für Kapitel 1-44 Wuntwurtz und 1-156 ‘Wolfesgelegena’ bzw. wolvisgelegena.9 Eine auch nur halbwegs sichere Bestimmung der Pflanze ist jedoch kaum möglich, da Hildegard keine Pflanzenbeschreibung mitgibt. In Kapitel 1-156 ist ausschließlich von Liebeszauber die Rede, während Kapitel 1-44 tatsächlich die Indikationen bietet, die in den Kräuterbüchern des 16. und 17. Jh.s für Arnika angegeben werden: bei äußeren Verletzungen, z.B. durch Eisen, bei Geschwüren, Flecken und Blasen zwischen Haut und Fleisch.9, S. 75 Hier irritiert jedoch der beigegebene lateinische Name ‘Seneacio’, der in Richtung ‘Senecio’ (Senecio vulgaris L., Gemeines Kreuzkraut) weist; eventuell ist auch an Nasturtium officinale R.Br. zu denken, da Willem F. Daems in seinem großen Synonymarium mehrere Belege dafür anführt, daß „Senecion" im Mittelalter auch für die Brunnenkresse stehen kann.10 Das „Wundkraut" in Kapitel 1-44 wird als „mehr kalt als warm" klassifiziert und soll einen „gefährlichen Saft" enthalten (9: S. 75), während die Pflanze in Kap. 1-156 als sehr warm eingestuft ist, und zwar von „giftiger Wärme" (9: S. 164). Außerdem gibt Heinrich Marzell für Hildegards „wolvisgelegena" zu bedenken, daß es sich hier möglicherweise auch um eine Aconitum-Art handeln könnte11, etwa um den gelben Sturmhut (Aconitum vulparia Rchb., syn. A. lycoctonum auct.non L.).12 Etymologische Spekulationen darüber, was „wolvisgelegena" eigentlich bedeuten soll - vorgeschlagen wurde „Wolfsleiche" = Wolfstod13, aber auch „Wolfsgelb" (15: VI, 705) -, führen deshalb möglicherweise nicht zur Arnika bzw. zum (Berg-)Wohlverleih, da eben nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass Hildegard die Arnika in ihre ‘Physica’ aufgenommen hat.
Einen Hinweis für die Verwendung der Arnika als Arzneipflanze für die Mitte des 13. Jh.s gibt Michael Freyer; demnach soll sie in einer Handschrift der Münchner Staatsbibliothek mit der Signatur Clm 17403 vom Jahr 1241 aus der Benediktinerabtei Scheyern innerhalb einer Abschrift des sog. ‘Pseudo-Apuleius’, eines Herbariums der Spätantike, erstmalig als Arzneipflanze bezeugt werden.14 Nach direkter Einsicht der Handschrift lässt sich freilich sagen, dass es sich um eine fragmentarische Überlieferung dieses Textes handelt, der die Arnika - weil sie nicht in den Arzneischatz der Antike eingegangen war - naturgemäß nicht kennt: und so fand sich auch im Clm 17403 (leider) kein Abschnitt zu unserem Heilkraut.
Die erste gesicherte Nennung der Arnika könnte somit in der Enzyklopädie des Matthaeus Sylvaticus (14. Jh.) vorliegen, und zwar als „arnich".15 Ein frauenheilkundlicher Text aus der zweiten Hälfte des 15. Jh. teilt schließlich eine eindeutige Indikation mit, nämlich ausbleibende Monatsblutung: „... eine [Frau] nehme Arnika und sieben Pfefferkörner und zerstoße sie zusammen und trinke das mit gutem, altem Wein, bevor sie nachts schlafen gehen will. Es wird kommen."16 Die Verwendung von Arnika bei ausbleibender Menstruation und als Abortivum dürfte in der mittelalterlichen Volksmedizin bereits weit verbreitet gewesen sein.17
Frühe Neuzeit
Die ersten Kräuterbuch-Drucke des späten 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts (‘Gart der Gesundheit’, Brunfels, Fuchs, Bock) nahmen die Arnika nicht auf, was nahe liegt, da diese Werke - abgesehen vom ‘Gart’ - im Kern eine Auseinandersetzung mit der antiken ‘Materia medica’ des Dioskurides darstellen, auch wenn sie in einigen Bereichen darüber hinausgehen, z.B. bei Angelica archangelica L.18. Um so überraschender ist deshalb der Befund, dass der Bergwohlverleih plötzlich in der Dioskurides-Bearbeitung des Pietro Andrea Matthioli (Venedig 1544 , dt. Ausgabe 1562/63) unter dem Namen „Alisma" bzw. „Engeltranck" (dt. Ausgabe fol. 385, Kap. 112) auftauchen soll (vgl. Freyer 14, S. 38); und Tabernaemontanus (Jacob Theodor von Bergzabern, 1588/1590) bringt Arnika dann gleich zweimal: unter „Mutterkraut" bzw. „Caltha alpina" (nach Konrad Gesner) und als „Groß Lucianskraut"19. Die Identifizierung von Arnika mit „Alisma", die spätestens durch Matthiolus vorgenommen wurde, ist kaum nachvollziehbar, denn in der ‘Materia medica’ (Buch III,159 nach Berendes20 bzw. III, 152 nach Wellmann21) wird „Alisma" oder „Damasonium" als eine dem großen Wegerich ähnliche Pflanze mit weißen(!) oder auch rötlich blassen Blüten beschrieben, was nun gar nicht für die Arnika passt. Bereits Rembert Dodonaeus [Dodoens] hatte sich in seinem ‘Cruydt-boek’ (Antwerpen 1554) gegen die Gleichsetzung von Alisma/Damasonium mit Arnika (bei ihm „Woudt-bloeme") gewandt, und Adam Lonitzer (1573) präsentiert - wohl korrekt - Alisma als „Wasserwegerich oder Froschlöffelkraut"22. Berendes gibt dann auch in seiner kommentierten Dioskurides-Übersetzung von 1902 für Alisma „Alisma plantago L." (Froschlöffel), dem sich Marzell anschließt, um dann trotzdem die Indikationen Matthiolis für Arnica montana aufzuführen, obwohl diese gänzlich dem Alisma-Kapitel aus ‘Dioskurides’ entnommen sind, der - nach Marzells eigenem Dafürhalten - die Arnika eben nicht meint!! 12, S. 290; Indikationen: S. 291
Damit wiederholt sich in der wissenschaftshistorischen Literatur des 20. Jahrhunderts (z. B. bei Freyer14) dieselbe Verwechslung und Verwirrung, die sich im 16. und 17. Jh. ereignet hatte. Damals schrieb etwa Tabernaemontanus den gesamten Alisma-Passus nach Matthioli bzw. Dioskurides für sein „Groß Lucianskraut" (11. Section, 23. Kapitel) mit dem Hinweis ab, dass es sich um dieselbe Pflanze handle, die er schon zuvor unter dem Namen Mutterkraut in der 1. Section im 22. Kapitel behandelt habe (vgl. Textbeispiel).
Die erste wohl zuverlässige Erwähnung der Arnika in den Werken des 16. Jh.s dürfte die von Konrad Gesner in seinen ‘Horti Germaniae’ von 1561 sein, der die Pflanze mit „Caltha alpina" benennt. Damit ist zumindest das „Mutterkraut" bei Tabernaemontanus zutreffend (vgl. Text), weil er hier auf Gesner und Matthias Lobelius (1538-1616) und nicht auf Dioskurides/Matthioli zurückgreift. Johann Schröder fügt dann in seinem zweibändigen Werk ‘Trefflich versehene Medizin-Cymische Apotheke oder kostbarer Arzneischatz’ von 1685, erschienen bei Johann Hoffmann in Nürnberg, für seinen kleinen Arnika-Artikel (Bd. 2, S. 827) Namen und Indikationen, wie sie bei Tabernaemontanus in den beiden Kapiteln „Mutterwurtz" und „Lucianskraut" angeführt werden, zusammen. Doch in dem heute immer noch beeindruckenden ‘Grossen vollständigen Universal-Lexikon’ des Johann Heinrich Zedler, das mit seinen 68 Bänden (Halle/Leipzig 1732-1754) nicht nur die erste moderne deutsche Enzyklopädie, sondern auch eine äußerst wertvolle Quelle für die Medizin- und Pharmaziegeschichte darstellt, findet sich unter Arnika nur ein Verweis auf Alisma, während der Artikel ‘Alisma’ lediglich die beiden genannten Kapitel aus dem Kräuterbuch des Tabernaemontanus - bei z. T. wortwörtlicher Übernahme des Textes - kompiliert.
So können bis heute in wissenschaftshistorischen Arbeiten die Namen und Indikationen von Froschlöffel(kraut) und Bergwohlverleih unter Arnika oder Alisma zusammenlaufen, wie das bei Zedler, Marzell12, Freyer 14, S. 103f. und Benedum/Loew/Schilcher23 geschehen ist.
Nach den oben stehenden Ausführungen zu den Kräuterbüchern der frühen Neuzeit sind „Alisma", „Damas(s)onium", „Engeltrank" und „(Großes) Lucianskraut" als Synonyme für Arnica montana L., wenn nicht gänzlich zu streichen, so doch nur als irrtümliche Übertragungen anzusehen.
Namen - Synonyme
Herkunft und Ableitung des Namens „Arnika" sind nicht geklärt. Er scheint weder griechischen noch (römisch-)lateinischen Ursprungs zu sein. Unter den Synonymen bei Tabernaemontanus, Zedler und noch bei Döbereiner23b wird allerdings auch der Name „Ptarmica montana" angeführt; eine „Verschleifung" von „Ptarmica" zu „Arnika" erscheint nicht völlig undenkbar. Nun könnte „Ptarmica" vom griechischen Verbum „ptairo" (ich niese) herzuleiten sein, und tatsächlich wird bei Tabernaemontanus im Kapitel „Von Lucianskraut" die Wurzel der Pflanze mit der der schwarzen Nieswurz verglichen, dieser Vergleich stammt jedoch aus dem Alisma-Kapitel des Dioskurides und hat somit keinen direkten Bezug zur Arnika. Die Benennungmotivation findet sich aber im Kapitel „Von Mutterwurtz", dort heißt es: „Gesnerus meldet, daß die Wurtzel nießen mache." Wir haben es also hier wahrscheinlich mit einer Namensgebung des Humanismus zu tun, die aufgrund der Unerklärbarkeit des Namens „Arnica" erfolgte, und nicht mit einer ursprünglichen, antiken Bezeichnung. „Alisma" und „Damas(s)onium" beruhen - wie schon gezeigt - auf einer Verwechslung. Obwohl die „lateinische" Benennung auch im Volksmund weit verbreitet ist, lässt sich eine große Reihe von deutschen Namen anführen; hier nur die wichtigsten: Bergwohlverleih, Wundkraut, Fallkraut, Kraftwurz oder Kraftrosen, Mutterkraut, Engelkraut, Stichkraut23a, b; diese Bezeichnungen weisen auf die Verwendung als Heilkraut hin, etwa bei Stürzen (Fall) und Prellungen, oder - wie oben erwähnt - bei Menstruationsbeschwerden und als Abortivum (Mutterkraut); in diese Richtung weist vor allem auch die „inkorrekte" Volksetymologie, die „Wohlverleih" als „Wohl verleihen" auslegt (im Sinne einer „herba salvatoria") oder als „Wohl vor leydt". Die letztere Form ist bereits für das 16. Jh. belegt.15, S. 704 Es wäre noch zu prüfen, ob nicht doch die „Volksetymologie" die „richtige" und die „wissenschaftliche" von „Wolf" bzw. „wolves" die unsinnige ist; denn wenn Hildegard tatsächlich nicht die Arnika gemeint hat (s. o.), dann bricht ein wichtiges Glied aus dieser Argumentations-Kette. Zwar finden sich in einigen Glossaren des ausgehenden hohen und des späten Mittelalters (13. bis 15. Jh.) die Namen „wolvisdistel" und „wolviszeisila" als Übersetzung von ‘arinca’ bzw. ‘artinca’ (24); hier scheint jedoch eine Carduus-Art angesprochen zu sein, denn auch „zeisil" ist ein Synonym für Distel. Dass die Blätter der Arnika für Schnupf- und Rauchtabak benutzt wurden, zeigen nicht nur Namen wie „Tabaksblume", dies belegt auch Carl von Linné in seiner ‘Flora Suecica’ von 1755.12, S. 292
Der Name „Johannisblume" stellt die Pflanze in einen Zusammenhang mit Volksbräuchen um den Johannis- bzw. Sonnwendtag. Arnika galt wegen ihrer Blüte als Sinnbild der Sonne und spielt im Kult der Sommersonnenwende eine Rolle. Legt man sie unter das Dach oder hängt sie in der Stube auf, dann soll sie vor Blitzschlag schützen. Die größte Heilkraft wird Arnika zugesprochen, wenn sie am Johannistag gesammelt wird.25a In Böhmen bzw. Tschechien gab es den Brauch, ein „Johannisbett" zu bereiten. Die Kinder machten ein „Bett" aus Arnika, Glockenblumen und Wucherblumen und legten ein Heiligenbild darauf. Am nächsten Morgen fand sich dann Geld unter dem Blumenkissen.
Auch in Schlesien gehörte Arnika neben Schafgarbe, Kamille, Tausendgüldenkraut u.a.m. zu den heilkräftigen Johanniskräutern. Ein um 11 Uhr aus ihnen angesetzter und um 12 Uhr getrunkener Tee galt als besonders gesund.26, S. 141 Bei den Wenden in der Lausitz hieß die Arnika-Wurzel „Christwurzel": Wird sie im Stall unter der Krippe vergraben, so befällt die Schweine keine Krankheit. Und in Oberfranken sowie auch in der Rhön wehrte man mit der am Johannisabend gepflückten Arnika in besonders erfolgreicher Weise böse Geister ab. Arnika galt - wie so viele Pflanzen - als Apotropaikum.26, S. 82
Ob diese - auch den bösen Blick unwirksam machende - Eigenschaft, die Arnika gemeinsam mit dem um Johanni blühenden Hypericum perforatum besitzt, dafür verantwortlich ist, dass Arnika auf keinem uns bekannten Altarbild des Mittelalters oder der beginnenden Neuzeit zu finden ist? Ist Arnika ähnlich wie das im Rahmen des Exorzismus eingesetzte Johanniskraut27 oder die als Abortivum genutzte Raute (Ruta graveolens L.)28 eine Art Negativ-Heilpflanze, die auf christlichen Bildern nicht oder nur sehr selten dargestellt wurde?
Historisches Text-Beispiel
Jacobus Theodorus Tabernaemontanus: ‘Neu vollkommen Kräuterbuch’; hier nach der erweiterten Fassung von 1731 (Verlag Johann Ludwig König, Offenbach am Main), S. 714 („Mutterwurtz" , „Caltha alpina") und S. 1116 („Lucianskraut").
Von Mutterwurtz
Djeses Kraut beschreibet Lobelius in seinen Observationibus und Adversariis novis / daß es ein schönes Gewächs seye /
seine Wurtzel vergleicht sich der Wurtzel des grossen Baldrians / außgenommen daß sie kleiner ist /
und mit vielen Faseln behencket / bey nahe dem Doronico gleich / eines räsen / scharffen / durchtringenden / bittern / und doch wurtzigen Geschmacks / dem Nardo gantz gleich / aus welcher Wurtzel ein Stengel herfür tritt / einer Elen hoch /
bißweilen auch niedriger / an welches Gipffel ein gestirnte goldgelbe Blum herfür kommt /
gantz lustig und schön anzusehen / der Rindsaugblumen oder Johannisblumen fast gleich.
Seine Blätter sind lang / breit und bleichgelb / mit vielen Aederlein durchzogen / der Entzian so gleich und ähnlich /
daß sie in der erst vor die Entzian möchte angesehen werden. Gesnerus und Dodonaeus vergleichet sie den Wegreichsblättern /
mit welchen sie auch gar überein kommen.
Lobelius schreibet / daß er es in Agro Narbonensi habe angetroffen / es wächst auch in den feuchten Wiesen / auf den hohen Gebürgen:
[In Schweitzerland und Elsaß.]
Von den Namen Mutterkraut wird [von Pnegellern in den Bürden wilder Wegerich] Lateinisch genennt Caltha alpina, dieweil es für ein Art der Ringelblumen gehalten wird:
Rondeletius hält es für ein Geschlecht des Nardi Gallicae, andere sagen / es sey ein Species des Nardi Celticae, Gesnerus nennet es Caltham alpinam.
[Bei den Sachsen und Seestädten wird es Wolveley geheissen bey dem gemeinen Mann: aber von den Medicis, Arnica, Doronicum plantaginis folio alterum, C.B. 5. Germanicum & 6. Pannonicum, Clus. hist. Alisma, Matth. Cast. Cam. Eyst. alpinum, Ges. hort. Thal. Caltha alpina, Ges. hort. Calendula alpina, Ger. Nardus Celtica altera, Ad. Lob. icon. & obs. Lugd. Chrysanthemum latifol. Dod. Lugd. Ger. Damasonium sive Alisma, Lugd. Ptarmica montana, Lugd.]
Von der Natur und Wirkung
Lobelius schreibet / daß es den Harn sehr und gewaltig forttreibe / was sein Complexion sey / ist zuvor angezeiget.
[Gesnerus meldet / daß die Wurtzel niessen mache.
Bey den Sachsen braucht es das gemein Volck / denen so hoch hinunder gefallen /
oder so sich sonst etwan mit Arbeit verletzt haben: Nehmen ein Handvoll / sieden es in Bier /
trincken des Morgens einen Trunck warm davon / decken sich zu / und schwitzen:
Wo sie sich dann verletzt haben / empfinden sie an dem verletzten Ort großen Schmertzen /
auf zwo oder drey Stund / und werden also curiert; Haben sie sich aber nicht verletzt / empfinden sie keine Veränderung.
Auch zu Danzig in Preussen ist es sehr in grossem Brauch / und obwohl bey ihnen es nicht wächst /
wird es doch aus Nieder=Sachsen in Fässern dahin gebracht.]
[Von diesem Kraut wird auch gehandelt unden in der 11. Section am 23. Cap. unter dem Namen / Groß Lucians Kraut / das erste / welches nichts anders dann diß Mutterwurtz.]
Von Lucianskraut
I. Groß Lucianskraut
Damassonium I. Dioscoridis
Das (I.) Kraut Damassonium beschreibet Dioscorides lib. 3. cap. 160. daß es Blätter habe dem Wegrich ähnlich / allein daß sie schmäler seyn /
und gegen der Erden gebogen: Die Wurtzel sey der schwartzen Nießwurtz etwas gleich / ein wenig feißt /
zanger und eines guten Geruchs / aus welcher ein schmaler Stengel wachse / mehr dann Elenbogen lang / an welchem dünne weißlechte Blumen herfür kommen:
Matthiolus sagt: daß es goldgelbe Blumen trage / und seine Blätter seyn etwas schmäler und weicher dann des Wegrichs Blätter.
Dodonaeus schreibet / der Saam sey dünn / lang und schwartzlecht. [Von diesem Kraut wird auch gehandlet oben
in der I. Section dieses Buchs am 22. Capitel unter dem Namen Mutterwurtz.]
II. Das ander Geschlecht ist dem ersten fast gleich / seine Wurtzel ist länger und zasecht:
Die Blätter sind kleiner / stehen mehrteils unten am Stengel / liegen auf der Erden ausgebreitet / der Stengel ist schmäler und etwas härig:
Die Blumen wachsen etwas grösser / welcher Blätter zerkerfft seyn. Sie wachsen in nassem feuchten Erdreich / auch in feuchten Wäldern:
[in Böhmen / um Nürenberg und Helmstatt] blühen im Junio.
Von dem Namen
Lucianskraut wird auch genannt Waldblume / Lateinisch Damassonium, Alisma, Chrysanthemon latifolium, Plantago alpina. [I. Doronicum Plantaginis folio alterum, C.B. Alisma, Matth. Cast. Cam. Eyst. alpinum, Ges. hort. Thal. Caltha alpina, Ges. hort. Tab. Calendula alpina, Ger. Nardus Celtica altera, Ad. Lob. icon. & obs. Lugd. Chrysanthemum latifolium, Dod. Lugd. Ger. Damasonium sive Alisma, Lugd. Ptarmica montana, Lugd.] Die Schweitzer nennen es Mutterwurtz.
Bömisch Angelskytranck. Teutsch wird es auch genennet Engeltranck [Camerarius nennet es Laugenkraut / Johanneskraut]
Von der Natur / Krafft und Eigenschafft des Luciankrauts.
Dioskorides schreibet / die Wurtzel sey am Geschmack scharff / muß derowegen warmer und truckener Natur seyn.
[Diß Kraut und fürnemlich die Wurtzel / wärmet und macht dünn / mit seiner geringen Zusammenziehung.]
Innerlicher Gebrauch
Ein Quintlein dieser Wurtzel oder mehr mit Wein getruncken / ist gut denjenigen / so von einer Kröten gebissen seyn / oder Opium geessen haben.
[Es meldet Camerius (!), daß die Bauern dem Viehe gesotten zu trincken geben / wann sie vermeinen daß sie etwas vergifftes geessen haben.]
Auf gleiche Weiß gebraucht ist gut wider das Grimmen / oder Darmgicht. Wie solches Dioscorides bezeuget. [Dienet auch wider den Gebresten der Mutter. Das Kraut stopffet den Stulgang / treibt die Monzeit.]
Man braucht auch das Kraut zu Pulver gestossen und eingegeben dem Viehe / wann sie nicht essen können.
Eusserlicher Gebrauch
Das Kraut wie ein Pflaster aufgelegt / sänfftiget die Geschwulst.
Ist sonsten gar nicht im Gebrauch der Artzney / wie auch Dodonæus bezeuget.
Literatur
- Dieses Zitat überliefert der Weimarer Kanzler Friedrich von Müller (Theodor Adam Heinrich Friedrich Müller) in einem Brief vom 20./22. Februar 1823; vgl. Johannn Wolfgang Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. von Ernst Beutler, Bd. 23: Goethes Gespräche 2. Teil, Artemis, Zürich 1950: 248.
- Vgl. Frank Nager, Goethe der heilkundige Dichter, Artemis, Zürich und München 1990, (Insel-Taschenbuch) 1994, S.40f.
- Kanzler von Müller: Unterhaltungen mit Goethe. Kritische Ausgabe von Ernst Grumach, Böhlaus Nachfolger, Weimar 1956: S. 63.
- Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, C.H. Beck, 2. Aufl., München 1984: S. 454.
- Weimarer Ausgabe: Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, IV. Abteilung, 35. Band, Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1906: 47.
- Weimarer Ausgabe (wie 5), II. Abteilung Bd. 6 (1891), Lesarten zu den ‘Botanischen Studien’ zu S. 117, 27: S. 385.
- Weimarer Ausgabe (wie 5), II. Abteilung Bd. 13 (1904): S. 143 Nr. 150.
- ‘Buch von den feinen Eigenschaften der verschiedenen erschaffenen Naturen’.
- Portmann M-L: Hildegard von Bingen. Heilkraft der Natur ‘Physica’. Das Buch von dem inneren Wesen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe. Erste vollständige, wortgetreue und textkritische Übersetzung, bei der alle Handschriften berücksichtigt sind, Pattloch Verlag, Augsburg 1991.
- Daems W F: Nomina simplicium medicinarum ex synonymariis medii aevi collecta. Semantische Untersuchungen zum Fachwortschatz hoch- und spätmittelalterlicher Drogenkunde (= Studies in Ancient Medicine, 6), E.J. Brill, Leiden - New York - Köln 1993: 245, Nr. 422, vgl. auch 309, Nr. 655, S. 309.
- Marzell H: Wörterbuch der deutschen Pflanzennamen, Bd. 1, S. Hirzel, Leipzig 1943, Sp. 400.
- Marzell H.: Geschichte und Volkskunde der deutschen Heilpflanzen, Hippokrates-Verlag, Stuttgart 1938, Nachdruck ebd. 1967: S. 290.
- Max Höfler leitet „Wohlverleih", aus „Wolfesleich, mhd.: wolveslîh; Hildegard: „wolvisgelegena; 16. Jh. „wolfslegia" ab; vgl. Höfler M: Volksmedizinische Botanik der Germanen, Ludwig, Wien 1908: S. 6.
- Freyer M: Europäische Heilkräuterkunde. Ein Erfahrungsschatz aus Jahrtausenden (Würzburger medizinhistorische Forschungen, 61), Königshausen&Neumann, Würzburg 1998: S. 37.
- Vgl. Hegi G: Illustrierte Flora von Mitteleuropa. Mit besonderer Berücksichtigung von Deutschland, Oesterreich und der Schweiz, Bd. VI, 2. München o.J.: S. 704, Anm. 1.
- ‘Von der Natur der Frauen und ihren Krankheiten’ aus der Handschrift: Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1069, fol. 196ra-207rb; übersetzt bei Kruse B-J: „Die Arznei ist Goldes wert". Mittelalterliche Frauenrezepte. Walter de Gruyter, Berlin - New York 1999: S. 246.
- Willuhn G: Arnicae flos/Arnikablüten. In: M. Wichtl (Herausg.), Teedrogen und Phytopharmaka. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1997: S. 78-82. - Es sei darauf hingewiesen, daß im derzeit gültigen Arzneibuch Arnicae flos zwei Stammpflanzen hat: Arnica montana L. und die aus Nordamerika stammende, nach Adelbert von Chamisso (1781 - 1838) benannte Arnica chamissionis LESS.ssp.foliosa (NUTT.) MAGUIRE. - Der Status quo der medizinischen Arnika-Forschung ist in der Zeitschrift für Phytotherapie 20 (1999) zusammengefaßt.
- Czygan F-Ch: Engelwurz oder Angelikawurzel - Angelica archangelica L. Zphytoter 1998; 19: 342-348, bes. 347; Mayer, J G: Die ersten gedruckten Kräuterbücher und das Angelika-Wasser der Donaueschinger Taulerhandschrift. In: G. Keil, J. G. Mayer, C. Naser (Herausg.): Würzburger Fachprosa-Studien, Festschrift Michael Holler (Würzburger medizinhistorische Forschungen, 38). Königshausen und Neumann. Würzburg 1995: 156-177 bes. 164-169.
- Jacobus Theodorus Tabernaemontanus, Neuw vollkommentlich Kreuterbuch, Frankfurt am Main, Teil I. 1588, Teil II u. III 1590; in der Fassung Basel 1687 (König und Johann Brandmyller) S. 714 („Mutterkraut") und S. 1116 („Lucianskraut").
- 20. Des Pedanios Dioskurides aus Anazarbos Arzneimittellehre in fünf Büchern, übersetzt und mit Erläuterungen versehen von J. Berendes. Ferdinand Enke. Stuttgart 1902: S. 361.
- Pedanii Dioskuridis Anazarbei De materia medica libri quinque, edidit Max Wellmann, 3 Bde. Weidmann. Berlin 1958, Bd. 2: S. 159.
- Vgl. Adamus Lonicerus: Kreuterbuch, künstliche Conterfeytunge der Bäume, Stauden ... korrigierte und vermehrte Ausgabe durch Peter Uffenbach, Matthäus Wagner, 1679, Reprint Konrad Kölbl, München 1962: S. 323.
- Benedum J, Loew D, Schilcher H: Arzneipflanzen in der Traditionellen Medizin. Hrsg. von der Kooperation Phytotherapie. 2. Aufl. 1994; S. 178.
23a. Marzell H.: Arnika. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 1. Walter de Gruyter. Berlin 1927, Sp. 597f. und ders., Heilpflanzen (wie 12): S. 292f.
23b. Noch im Werk des bekannten Chemikers J. W. Döbereiner (1780-1849), das er zusammen mit seinem Sohn Franz 1842 herausgab („Deutsches Apothekerbuch. Erster Teil" P. Walz’sche Buchhandlung, Stuttgart), werden folgende Bezeichnungen für Arnikablüten aufgeführt: „Flores Arnicae: Flores Arnicae montanae s. plauensis, Flor. Betonicae montanae s. Calendulae alpinae s. Calthae alpinae s. Doronici germanici s. Hyperici majoris s. Lageae Lupi s. Ptarmicae montanae - Fallkrautblumen, Wolverleyblumen, Bergbetonienblumen, Engelstrankblumen. - Vgl. Diefenbach L: Glossarium Latino-Germanicum mediae et infimae aetatis, Frankfurt am Main 1857, Nachdruck Darmstadt 1997: 49c; vgl. Marzell12, Sp. 401.
- Handbuch des Aberglaubens, hrsg. von Müller-Kaspar U., unter Mitwirkung von R. Kaspar R., U. Muss, Ch. Wessely und S. Wimmer, Bd. 1. Tosa-Verlag. Wien 1996: S. 66b.
- Seligmann S: Die magischen Heil- und Schutzmittel aus der belebten Natur - Das Pflanzenreich, Reimer Verlag, Berlin 1996.
- Czygan F-C: Kulturgeschichte und Mystik des Johanniskrautes. Z.Phytotherapie 1993; 14: 272-278.
- Becela-Deller C: Ruta graveolens L. - Eine Heilpflanze in kunst- und kulturhistorischer Bedeutung. In: Würzburger medizinhistorische Forschungen, Bd. 65 (1998), Königshausen und Neumann, Würzburg 1998