Von den Valerianaceen ließen sich die verschiedenen Kulturkreise faszinieren. Sowohl China als auch Indien nutzen sie, bei den Griechen, Römern, Germanen, Kelten und Arabern war zumindest ein Vertreter dieser Gattung in der Heilkunde in Gebrauch. Welche Art mit dem Namen „Phu" bei Plinius, Dioskurides und Galen angesprochen wird, ist nicht geklärt, möglicherweise handelt es sich um Valeriana phu. Phu wird von den antiken Autoren gegen Leiden im Brustbereich empfohlen. Denn hinter dem bei Plinius und Dioskurides (beide 1. Jh. nach Chr.) aufgeführten „Seitenstechen" (dolor lateris) steht höchstwahrscheinlich eine Bauch- oder Rippenfellentzündung. Außerdem soll Phu die Menstruation befördern (Plinius und Dioskurides) sowie eine harntreibende Wirkung haben (Dioskurides und Galen).

Im Mittelalter sind zwei Veränderungen zu beobachten: zum einen wird ein neuer Name eingebürgert. Seit dem 10./11. Jh. ist meist von „Valeriana" die Rede, während Phu noch häufig als Synonym mitgegeben ist. Die neue Bezeichnung wird jedoch bevorzugt, erstmals schriftlich belegt in einer lateinischen Übersetzung von ‚De diaetis’ des Isaac Judaeus aus dem 10. Jahrhundert. Zum anderen kommen zu den antiken Indikationen für Phu, die auch unter „Valeriana" weiter überliefert werden, neue Anwendungen hinzu, die vor allem den Verdauungstrakt betreffen: Förderung der Verdauung, gegen Magenschmerzen, sowie bei „Verstopfung der Leber und der Milz" und bei Vaginalausfluss. Diese Indikationen finden sich in zentralen Schriften der Medizinschule von Salerno, teilweise bereits im ‚Liber graduum’ des Constantinus Africanus (gest. 1087) und im vollen Umfang im ‚Circa instans’ (um 1140), der größten Drogenkunde aus der ersten medizinischen Universität Europas. Die hier festgelegten Einsatzgebiete wurden für das Mittelalter die maßgeblichen. Von nun an kann man auch vom Baldrian, von Valeriana officinalis sprechen, denn bis zu den ersten genaueren Darstellungen in Wort und Bild aus dem 15. Jahrhundert erfolgten keine Brüche mehr in der Tradition.

An der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit lässt sich ein deutlicher Wandel bei den Anwendungen des Baldrian nachweisen. Zu den eingebürgerten Indikationen kommen neue hinzu, die sofort als die Haupteinsatzgebiete vorgestellt werden, ohne dass die Indikationen aus dem Mittelalter verschwinden. Ältester Zeuge ist das ‚Kleine Destillierbuch’ des Hieronymus Brunschwig, das im Jahr 1500 in Straßburg gedruckt wurde. Die hier erstmals aufgestellte Behauptung, dass der Genuss der Baldrianwurzel die Sehkraft stärke, wird zur Hauptindikation; Brunschwig selbst spricht vom Baldrian als „Principal-Stück" bei aller Art von Augenleiden.

Ebenfalls von größerer Bedeutung scheint auch der Einsatz als Pestmittel, insbesondere zur Prophylaxe gewesen zu sein. In keinem Kräuterbuch des 16. und 17. Jahrhunderts fehlt ein entsprechender Hinweis. In der umfangreichen Literatur zur Pest vor 1500, die im Zuge der ersten großen Epidemie von 1348-50 entstand, spielt Baldrian allerdings keine Rolle.

Außerdem wird der Baldrian seit Hieronymus Brunschwig offensichtlich auch für zahlreiche äußere Anwendungen, bei Wunden, Tierbissen, Feigwarzen und Hautproblemen eingesetzt.

So entsteht im 16. Jahrhundert eine ausgesprochene „Indikationslyrik". Der Baldrian gilt als Theriak des kleinen Mannes, also nahezu als ein Allheilmittel, das ähnlich gut und umfassend wirken soll wie der sehr viel teuerere Theriak. Deshalb findet sich auch in den gedruckten Kräuterbüchern häufig der Name „Theriakwurzel" als Bezeichnung für den Baldrian.


Baldrian als Schlaf- und Beruhigungsmittel

Nur eine Indikation scheint unter der großen Zahl zu fehlen, die seit 1500 in Umlauf kamen, nämlich die heute gültige: bei Unruhezuständen und Schlafstörungen (Kommission E). Diese Indikation galt als eine Entdeckung des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wobei Hufeland wohl der wichtigste Zeuge ist (s. Tabelle). Nun findet sich aber schon im ‚Lorscher Arzneibuch‘ (kurz vor 800) ein Kapitel zum Schlaf, in dem der Baldrian zu einem wichtigen Bestandteil einer größeren Rezeptur gehört. Dieses Mittel soll nicht nur den Schlaf verbessern, sondern auch dazu dienen, eine gute Balance zwischen Tag und Nacht, zwischen Schlafen und Wachen zu erreichen. Wörtlich heißt es: „allzu viel Schlaf gleicht es mit Wachen aus, bei übermäßiger Schlaflosigkeit sorgt es für den entsprechenden Schlaf, es befreit von Erschöpfung, nimmt die Trägheit ...".

Erst 700 Jahre später wird der Baldrian wieder in einem schriftlichen Zeugnis eindeutig in Zusammenhang mit Schlaflosigkeit und Beruhigung gebracht. Wieder handelt es sich um eine Klosterhandschrift, diesmal um eine Handschrift aus Benediktbeuren (heute München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4622, Blatt 159 verso) aus der Zeit um 1500. Und wiederum geht es sich um ein Rezept mit mehreren Bestandteilen.

Im Zusammenhang mit der beruhigenden Wirkung des Baldrians ist eine Bemerkung im Kräuterbuch des Otto Brunfels (1532) interessant. Hier heißt es, dass das gemeinsame Trinken von Baldrian „holdselig, einig, friedlich" mache. In die gleiche Richtung geht ein Hinweis, den Brunschwig 30 Jahre zuvor in seinem ‚Kleinen Destillierbuch’ vom Jahr 1500 gibt: hier wird der Baldrian Eheleuten, die sich nicht vertragen, empfohlen. Um 1500 scheint man also von einer beruhigenden Wirkung der Pflanze ausgegangen zu sein. Als ein weiterer Beleg für diese Ansicht kann möglicherweise die Bemerkung in einer Handschrift aus dem Schloss Wolfsthurn bei Sterzing aus dem 15. Jahrhundert gewertet werden, die besagt, dass Valeriana die Freundschaft unter Männern und Frauen herbeiführe. Bislang wurde diese Aussage als Anspielung auf eine aphrodisierende Wirkung interpretiert. Im Zusammenhang mit den Hinweisen aus den andern, nur wenig jüngeren Quellen wie Brunschwig, Brunfels und der Benediktbeurer Handschrift könnte aber auch im Wolfsthurner Codex eine beruhigende Wirkung gemeint sein.

Damit wäre diese Indikation der Baldrianwurzel für die Zeit um 1500 schon sehr gut belegt. Unter Berücksichtigung der Tatsche, dass viele Gebräuche erst im 15. Jahrhundert allmählich verschriftlicht wurden, kann man bei diesem Befund also vermuten, dass Baldrian schon in der Volksmedizin des Mittelalters zur Beruhigung eingesetzt worden ist, nicht jedoch in der „professionellen", d.h. akademischen Medizin. Dort setzt sich diese Indikation erst im 18. Jahrhundert durch, wie die Ausführungen Hufelands zeigen: „Eines der besten Nervenmittel, was ich kenne, zur Stärkung und Regulierung des Nervensystems."

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kommt es zu einem völligen Bruch in der Geschichte des Baldrian in der Medizin. Die gesamte „Indikationslyrik", die sich seit 1500 aufgebaut hatte, wird vollständig gestrichen, ein ziemlich einmaliger Vorgang in der Geschichte der Kräuterheilkunde.

Valariana officinalis ist nun ein Nervenmittel, bei Sebastian Kneipp ein Schmerzmittel. Lediglich Madaus erwähnt noch Verdauungsbeschwerden, die im Mittelalter geradezu den Schwerpunkt des Einsatzes des Baldrians ausgemacht hatten. In der 5. Auflage von Hagers Handbuch der pharmazeutischen Praxis finden sich dann alle Hinweise von Madaus als volkstümliche und andere Anwendungen wieder (vgl. Tabelle).

Heute erweist sich die Baldrianwurzel nicht nur als eines der wirksamsten Mittel bei nervöser Unruhe und Schlaflosigkeit, vielmehr könnten ihre Kräfte noch weit vielfältiger sein, wie neuere Beobachtungen vermuten lassen. Möglicherweise wird die radikale Streichung des breiten Anwendungsspektrums des Mittelalters und der frühen Neuzeit eines Tages zumindest teilweise wieder zurückgenommen.


Die Namen der Pflanze

Praktisch alle wirklich alten Namen der Pflanze sind rätselhaft, sowohl die lateinischen Bezeichnungen „Valeriana", „Phu" und „Dacia/Dania", als auch die mittelalterlichen deutschen Namen „Baldrian" und „Dennmark".

Die lateinischen Namen
"Valeriana" gehört nicht zum Wortschatz des klassischen Latein, sondern ist wahrscheinlich eine Bildung des Mittelalters. Die Forschung hat mehrere Erklärungsmöglichkeiten bereitgestellt. So soll Valeriana nach der Provinz Valeria in Pannonien gebildet sein. Die etymologische Herleitung von „valere" (gesund sein) wurde wahrscheinlich erst nachträglich vollzogen. Nach dem späten Erstbeleg von „Valeriana" (10. Jh.), wurde auch eine Herleitung des Namens aus germanischen Bezeichnungen in Betracht gezogen, etwa aus isländisch „vélantsrut", schwedisch „velantsrot", oder althochdeutsch „baldrian", „bolderian" (so etwa in „Köhlers Medizinal-Pflanzen").

Der Name "Phu", der zuerst bei Dioskurides auftritt und vermutlich aus dem Ägyptischen stammt, bezeichnet heute nicht Valeriana officinalis, sondern eine andere Art: Valeriana phu L., den „Großen Baldrian", der aus dem Kaukasus kommt. Vermutlich wurden „Phu" und „Valeriana" bald als Synonyme für Valeriana officinalis gebraucht. Ganz sicher seit dem 10. Jahrhundert, vermutlich aber bereits vorher.

Dacia, dania: Dacia meint im Mittelalter meist Dänemark. Vielleicht handelt es sich hier um eine sekundäre Bildung nach dem deutschen (alemannisch - rheinländischen) Namen „denemarka" und „tennmark", der wahrscheinlich ursprünglich nichts mit Dänemark zu tun hatte; denn dieser Name kommt wohl aus dem Südwesten des deutschen Sprachraums, wie gleich unten ausgeführt wird.

Die wichtigsten deutschen Namen
"Baldrian" taucht bereits in althochdeutschen Glossen auf; deshalb wurde eine Beziehung zum germanischen Gott Baldur oder Balder gezogen, eine Vermutung, die sich nicht weiter belegen läßt. Wahrscheinlicher ist die Herleitung vom lateinischen Wort „Valeriana"; aber auch dieses Wort ist erst im Mittelalter (ab dem 10. Jh.) belegt. Spätere verballhornte Formen sind: Jan (Johann): Bullerjahn, Ballerjan, Balderjan.

Denemarka, Tennmark, wird ebenfalls bereits in althochdeutschen Glossen bezeugt sowie bei Hildegard von Bingen. Diese Bezeichnung kommt wohl nicht von Dänemark, vielmehr handelt es sich hier wahrscheinlich nur um einen zufälligen Gleichklang. Bezeichnungen wie „Tammarg" und „Damarge" sind für Graubünden belegt, „Dammarg" für St. Gallen. Mitte des 20. Jh.s ist der Name noch in der Schweiz und in Baden bekannt.

Augenkraut: wie die Indikationsliste und die Texte zeigen, galt die Baldrianwurzel zu Beginn der frühen Neuzeit als das Mittel zur Verbesserung der Sehkraft. Noch zu Beginn des 20. Jh.s machte man in Graubünden „Auge-Bündeli", kleine Bündel aus Kräutern, die man bei entzündeten Augen an einer Schnur um den Hals trug. Dabei wurde hauptsächlich Baldrianwurzel verwendet. Der Name Pestwurz bezieht sich auf die in der frühen Neuzeit, vielleicht auch schon im Spätmittelalter vermutete prophylaktische Wirkung in Pestepidemien. Er war bis ins 20. Jahrhundert hinein verbreitet. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts soll man in Schlesien den Spruch: „Koch, koch Baldrian – Es wird schon wieder besser wa’n" und in Sachsen den Vers: „Trinkt Baldrian – Sonst müsst ihr alle dran" gekannt haben. Aber die Texte des Mittelalters geben darüber keine Auskunft: auch die Pesttraktate die nach der großen Pest von 1348-1350 verfasst worden sind, nennen den Baldrian nicht unter den Pflanzen, die hier helfen sollten.

Katzenkraut bezieht sich auf die Vorliebe der Katzen für den Geruch des Baldrians.


Volksglaube und Volksbrauchtum

Auch wenn Baldrian nicht sicher von der germanischen Gottheit Baldur abgleitet werden kann, so spielt er dennoch in der germanischen Mythologie eine Rolle. „Die Göttin Hertha trug einen Baldriansstängel als Reitgerte." Der Baldrian wurde vor allem als Schutz vor bösen Mächten, als Apotropaikum, im Volksglauben betrachtet; wegen des starken Geruches der Wurzel glaubte man, dass der Baldrian Teufel, böse Geister und Hexen fernhalten könne. Heinrich Marzell berichtet, dass man anscheinend noch zu Beginn des 20. Jahrhundert in Hessen einer Kuh nach dem Kalben in die ersten drei Eimer des Trinkwassers Baldrian, Dost und Dill gegeben hat, um die Kuh vor bösen Einflüssen zu schützen. Es hieß: „Baldrian, Dost und Dill, - kann die Hex nicht, wie sie will." Ein an der Zimmerdecke aufgehängter Baldrian sollte dagegen das Eintreten einer Hexe anzeigen: wenn eine Frau eintritt, und der Büschel beginnt sich zu bewegen, dann ist die Frau eine Hexe. Auch im Zillertal schützte man sich im 18. Jahrhundert vor Zauberei mit Baldrian, der musste aber zwischen den „Frauentagen" (Mariä Himmelfahrt am 15. August und Maria Geburt am 8. September) an einem der drei Sonntage direkt beim Morgengrauen gesammelt werden, „wenn die Sonne an die höchste Bergspitze anschlägt".

Aigremont schreibt im 2. Band seiner Volkserotik und Pflanzenwelt, dass der Baldrian, dessen Ableitung vom germanischen Gott Baldur ihm zweifelhaft, aber nicht ausgeschlossen erscheint, ein „Schutzkraut gegen Hexen und Teufelszauber" gewesen sei, aber auch gegen Elfen-Neid. Den Neid der Elfen zogen sich Brautleute zu. Um zu verhindern, dass die Elfen den Bräutigam mit Impotenz schlugen, sollte er am Hochzeitstage Baldrianblätter in seiner Rocktasche tragen.