Die Anfänge der Klostermedizin liegen in der Spätantike und gewinnen im frühmittelalterlichen Mönchtum Profil. Die Regula Benedicti (um 540) setzt den organisatorischen Rahmen für Gemeinschaft, Arbeit und Fürsorge. In vielen Klöstern entstehen Arzneigärten, Kräuterkammern und kleine Hospitäler; Skriptorien sichern, kommentieren und verbreiten medizinisches Wissen. Der frühmittelalterliche St. Galler Klosterplan (um 820; Datierung diskutiert) weist herbularius und infirmarium als feste Bestandteile aus.
Als frühe Leittexte gelten das Lorscher Arzneibuch (um 800) mit Rezepten, Diätetik und Segensformeln sowie der Hortulus des Walahfrid Strabo (wahrscheinlich in den 830ern), ein poetisches Lehrgedicht zu Klostergarten und Heilpflanzen: Es verbindet Gartenwissen und Medizin und orientiert sich im Aufbau an antiken Vorbildern.
Kennzeichnend ist das Zusammenspiel von Schriftkultur und Gartenpraxis: Antikes und spätantikes Wissen wird in die monastische Ordnung integriert; aus Anbau und Anwendung entsteht eine praktische Basis, auf der das Hochmittelalter aufbaut. Im intellektuellen Hintergrund stehen Cassiodor (Vivarium; Institutiones) und Isidor von Sevilla (Etymologiae).
Kernpunkte
Regula Benedicti (um 540) und Caritas
St. Galler Klosterplan (um 820; Datierung diskutiert; herbularius, infirmarium)
Cassiodor (Institutiones) und Isidor von Sevilla (Etymologiae)
Lorscher Arzneibuch (um 800)
Hortulus (wahrscheinlich in den 830ern)
Die Klostermedizin basiert auf der antiken Lehre der Humoralpathologie, wie sie Galen aus Elementen, die bereits aus dem 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert stammen, formuliert hat – ohne freilich eine wirklich systematische Darstellung zu erreichen. Ihre völlige Ausformung findet sich erst in der arabischen Medizin (insbesondere bei Avicenna) und in Westeuropa in den medizinischen Werken des 12. und 13. Jahrhunderts.
Die ersten Schriften der Klostermedizin aus karolingischer Zeit zeigen zwar keinen direkten Bezug zur Viersäftelehre, weil dieser bei deren Hauptquelle Plinius und dessen Rezeptionsgeschichte (Medicina Plinii und Physica Plinii) fehlt. Ab dem 11. Jahrhundert kommt die Viersäftelehre jedoch zum Tragen.
Ausgangspunkt der Humoralpathologie ist die vorsokratische Lehre (nach Empedokles) von den vier Elementen als kleinsten Einheiten der physischen Welt: Luft, Feuer, Erde, Wasser. Diesen vier Elementen entsprechen (nach Polybos) im menschlichen Körper vier Säfte (humores): Die Luft entspricht dem Blut (sanguis), das Feuer der Gelben Galle (cholera), die Erde der Schwarzen Galle (melancholia) und das Wasser dem Schleim (phlegma). Jeder dieser vier Säfte ist auf ein Organ bezogen: das Blut auf das Herz, die Gelbe Galle auf die Leber, die Schwarze Galle auf die Milz und das Phlegma auf das Gehirn. Jedes Organ, jeder Körpersaft sowie jedes Element ist durch zwei von vier Primärqualitäten gekennzeichnet: heiß/kalt und feucht/trocken. Der thermischen Distribution (warm/kalt) wurde dabei gegenüber der hygrischen (feucht/trocken) ein größeres Gewicht beigemessen.
Elemente | Säfte (humores) | Organe | Qualitäten |
Luft (aer) | Blut (sanguis) | Herz (cor) |
heiß und feucht |
Feuer (ignis) | Gelbe Galle (cholera) | Leber (hepar) | heiß und trocken (calidus et siccus) |
Erde (terra) | Schwarze Galle (melancholia) | Milz (splen) | kalt und trocken (frigidus et siccus) |
Wasser (aqua) | Schleim (phlegma) | Gehirn (cerebrum) | kalt und feucht (frigidus et humidus) |
Befinden sich die vier Säfte im Körper in einem harmonischen Verhältnis (eucrasia, bonum temperamentum), dann herrscht Gesundheit, wobei diese Harmonie von Individuum zu Individuum unterschiedlich sein kann. Aus der individuellen Mischung ergeben sich die Charaktere: Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker und Phlegmatiker. Nimmt aber ein Körpersaft überhand, so entsteht Krankheit, wobei die Krankheit durch die Qualitäten des jeweiligen Saftes bestimmt ist. Um die Harmonie wiederherzustellen, muss eine Arznei mit entgegengesetzter Wirkung gegeben werden (Prinzip: contraria contrariis). Dazu wurden die Wirkungen der Heilmittel ebenfalls nach den Primärqualitäten festgelegt: wärmende und befeuchtende Mittel, wärmende und trocknende, kühlende und befeuchtende sowie kühlende und trocknende.
Da die Wirkungsintensität wichtig ist, hat die arabische Medizin die Wirkungsqualitäten noch in vier Intensitätsgrade eingeteilt (al‑Kindi) und diese noch einmal in drei Untergrade gegliedert (al‑Gazzar): so kommt es zu Bezeichnungen wie „heiß im Anfang (in der Mitte bzw. im Ende) des dritten Grades“. Diese Unterteilung der Grade hat sich in Europa jedoch nur teilweise durchgesetzt.
Kernpunkte
Galenische Humoralpathologie; volle Ausformung in arabischer Medizin (Avicenna)
Frühmittelalter: Pliniusrezeption (Medicina/Physica Plinii), ab 11. Jh. stärkere Wirkung der Viersäftelehre
Elemente–Säfte–Organe–Qualitäten als Ordnungsrahmen (Empedokles/Polybos)
Therapie nach contraria contrariis; abgestufte Wirkungsgrade (al‑Kindi/al‑Gazzar)