Der Begriff „Klostermedizin“ bezeichnet in der Medizingeschichte eher eine Epoche und weniger eine spezielle Therapiemethode. Diese Epoche umfasst etwa das frühe und hohe Mittelalter, insbesondere die Zeit vom 8. bis zum 12. Jahrhundert. In diesem Abschnitt wurde die medizinische Versorgung Europas vorwiegend von Klöstern, also von Mönchen und Nonnen, getragen. Die Klostermedizin verdankt ihre Entstehung zwei Katastrophen, die über die europäische Kultur im 5. und 6. Jahrhundert hereinbrachen: zum einen der Völkerwanderung, deren verheerende Auswirkungen auf die mediterrane Welt durch mehrere Seuchenzüge, die sogenannten Justinianischen Pestwellen (ab 543 bis etwa 700), noch dramatisch verstärkt wurden.
Mit dem Zusammenbruch des weströmischen Reiches (das oströmische Reich überdauerte beinahe das ganze Mittelalter) verschwanden neben vielen anderen zivilisatorischen Gütern – wie etwa den allgemein verbreiteten Fähigkeiten des Lesens und Schreibens – auch Strukturen der Medizin, die zuvor vorwiegend in den Händen griechischer Ärzte gelegen hatten.
In dieser Zeit des Umbruchs gründete Benedikt von Nursia (um 480–547) um 527 ein Kloster auf dem Monte Cassino in Süditalien, dem er eine umfangreiche Regel in 73 Kapiteln gab. Dieser Schritt sollte für die Geschichte Europas von zentraler Bedeutung werden – auch für die europäische Medizin. Denn Benedikts Richtlinien, die Regula Benedicti (um 540), entwickelten sich zur maßgeblichen Ordensregel in Westeuropa. Gregor der Große (540–604) trug über seine Dialogi (Buch II: Vita Benedicti) zur Autorität der Regel bei; die breite Normierung erfolgte jedoch erst im 9. Jahrhundert unter Benedikt von Aniane (Aachener Reformen 816/817).
So hatte Benedikt verfügt, dass jeder Mönch zumindest ein religiöses Buch pro Jahr lesen sollte. Daher mussten Lesen und Schreiben im Kloster gepflegt werden; vor der Erfindung des Buchdrucks (um 1450) wurden Bücher durch Abschreiben vervielfältigt.
Noch wichtiger ist Kapitel 36 der Regula: „Die Sorge für die Kranken steht vor und über allen anderen Pflichten.“ Dahinter steht der Satz aus dem Neuen Testament: „Krank bin ich gewesen, und ihr habt mich besucht.“ (Matthäus 25,36). Für die Pflege der Kranken sollte jedes Kloster einen eigenen Diener und einen speziellen Raum haben. Aus dem Raum wurde das Infirmarium und schließlich das Klosterspital; aus dem „Diener“ entwickelte sich der Mönchsarzt und Klosterapotheker, ab der Frühen Neuzeit auch die Klosterapothekerin.
Einer der Nachfolger Benedikts war Cassiodor (490–583), der auch als Berater der ostgotischen Könige diente. Er gründete das Kloster Vivarium und hinterließ ihm nicht nur seine umfangreiche Bibliothek, sondern auch seine Institutiones (Statuten), in denen er auch auf die Medizin zu sprechen kommt. Dabei empfiehlt er den Mönchen die großen griechischen Ärzte Hippokrates (5. Jh. v. Chr.), Dioskurides (um 70 n. Chr.) und Galen (gest. nach 200), sowie den römischen Autor Caelius Aurelianus (5. Jh.) zu studieren. Weitere Quellen für die Klostermedizin bildeten Lehrbriefe und Kurztraktate, die seit dem 4. und 5. Jahrhundert unter den Namen berühmter Ärzte und Gelehrter (etwa Hippokrates, Demokrit, Aristoteles, Galen) im Umlauf waren.
Kernpunkte
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Regula Benedicti (um 540): Vorrang der Kranken (Kap. 36), Ordnung, Maß
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Monte Cassino (Gründung um 527); Regel 73 Kapitel
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Überlieferung/Autorität: Gregor der Große, Dialogi II (Vita Benedicti)
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Normierung: Benedikt von Aniane, Aachener Reformen 816/817
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Schriftkultur: Lesen/Schreiben, Abschreiben von Büchern
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Infirmarium/Klosterspital; Mönchsarzt/Klosterapotheker(in)
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Cassiodor, Institutiones; Lektüreempfehlungen: Hippokrates, Dioskurides, Galen, Caelius Aurelianus