Kontext und Datierung
Hildegard von Bingen (1098–1179) verfasste ihre naturkundlich‑medizinischen Schriften zwischen etwa 1150 und 1160. Naturkunde (Physica) und Heilkunde (Causae et curae) bildeten zunächst wohl eine Einheit (Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum); die Trennung beider Teile setzte früh im 13. Jahrhundert ein. Die Werke gehören nicht zum Rupertsberger Gesamtkorpus; die grundsätzliche Echtheit ist aber durch Erwähnungen Hildegards selbst und ihres Sekretärs Volmar sowie später in der Vita und den Kanonisationsakten (1233) abgesichert.
Physica (Liber simplicis medicinae)
Profil: Naturkunde in neun Büchern; beschreibt belebte und unbelebte Geschöpfe – nicht nur mit medizinischem Nutzen. Pflanzennamen und Erkrankungen erscheinen häufig in rheinfränkischen Dialektvarianten, was die Identifizierung erschwert und in der Vergangenheit oft zu Fehldeutungen geführt hat. Einzelne, später populäre Deutungen (z. B. Dinkel) sind im Text weniger prominent, als die populäre Rezeption seit den 1970er‑Jahren nahelegt.
Aufbau
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De plantis – 217 Kapitel (Pflanzen; Kräuter, Grundnahrungsmittel)
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De elementis – 14 Kapitel (Elemente)
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De arboribus – 58 Kapitel (Bäume; + 6 Zusätze)
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De lapidibus – 27 Kapitel (Steine)
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De piscibus – 36 Kapitel (Fische)
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De avibus – 75 Kapitel (Vögel)
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De animalibus – 43 Kapitel (Landtiere)
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De reptilibus – 18 Kapitel (Reptilien)
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De metallis – 9 Kapitel (Metalle)
Quellen und Lemmata: Bezüge zur salernitanischen Fachtradition (Salerno) sind gut belegt; Lemmata und Anordnung zeigen Nähe zum Summarium Heinrici.
Überlieferung und Edition: Erste Handschriften ab frühem 13. Jahrhundert; fünf Handschriften (plus Fragmente). Alte Handschriften um 1300 – Florenz und Wolfenbüttel – bieten Langfassungen (längere Kapitel); späte – insbesondere Paris und Vatikan – Kurzfassungen. (Dabei geht es nicht um die Kapitelzahl, sondern um die Kapitel‑Länge.) Florenz und Wolfenbüttel enthalten einen Zusatztext, der mit Causae et curae**, Bücher 3 und 4** verwandt ist. (Vollständige Überlieferung außerdem: Brüssel.) Physica ist der Drucktitel von 1533 (Straßburg). Edition: Reiner Hildebrandt (2010); deutsche Übersetzung: Ortrun Riha (2012).
Nachwirkung: Das Pflanzenbuch erscheint im Speyrer Kräuterbuch (Mitte 15. Jh.), einer deutschsprachigen Kompilation aus Macer floridus (lat./dt.), Circa instans und Hildegards Physica; überliefert in Berlin (geschrieben in Speyer, daher der Name), Mainz und St. Florian. Inhalte fließen in den Mainzer Gart der Gesundheit (1485) ein.
Causae et curae (Liber compositae medicinae)
Profil: Heilkunde mit kosmologischer Rahmung: Ursprung der Krankheiten, Diagnose/Prognose, Therapie (Diätetik, Aderlass u. a.). Wahrscheinlich zeitgleich zur Physica entstanden; die Rezeptbücher stehen in enger Beziehung zu längeren Physica-Fassungen.
Aufbau
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Ordnung der Welt (Abschn. 1–55)
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Ursprung und Behandlung der Krankheiten (56–352)
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Rezepte (353–393)
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Weitere Rezepte (394–460)
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Prognosen (461–492)
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Einfluss des Mondes (493–530)
Überlieferung und Edition: Nahezu vollständiger Textzeuge Kopenhagen; Berliner Fragment ergänzt die Elementenlehre. Moderne Edition Laurence Moulinier (2003); deutsche Übersetzung Ortrun Riha (2011).
Einordnung
Beide Werke sind keine Visionsschriften, sondern natur‑ und heilkundliches Erfahrungswissen des Mittelalters. Die Authentizitätsdebatte ist präsent; Sprachgestalt und Denkform gelten in weiten Teilen als hildegardisch. Für die Klostermedizin bilden sie einen wichtigen Referenzrahmen – in Pflanzenkunde, Beobachtungswissen und Therapierastern – ohne eine eigene „Therapiemethode“ zu begründen.
Kernpunkte
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Datierung: Physica und Causae et curae ca. 1150–1160; frühe Trennung der Teile im 13. Jh.
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Physica: 9 Bücher (Plantae, Elementa, Arbores, Lapides, Piscis, Aves, Animalia, Reptilia, Metalla); rheinfränkische Dialektvarianten bei Pflanzennamen/Krankheiten → Identifikationsprobleme, teils Fehldeutungen; Nähe zum Summarium Heinrici
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Causae et curae: 6 Bücher (Weltordnung; Krankheiten; Rezepte I/II; Prognosen; Mond)
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Überlieferung: Physica – fünf Hss. (+ Fragmente); Causae et curae – Kopenhagen (nahezu vollständig) und Berliner Fragment
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Nachwirkung: Speyrer Kräuterbuch; Einfluss auf Gart der Gesundheit (1485)
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Einordnung: alltagspraktische Natur‑/Heilkunde, nicht visionär, keine Therapiemethode